Seit der Mensch diese Welt besiedelt, muss er sich Gedanken machen, wie er sein Leben gestaltet und wie er zu jenen Mitteln kommt, die sein Überleben sichern. Er nutzt die Gegebenheiten der Natur, formt, bebaut und gestaltet die Welt. Wirtschaften heisst Haushalten – im Kleinen wie im Grossen. Dabei stellen sich bis heute ähnliche Fragen, da der Mensch bereits in frühester Zeit mit der (gleichen) Frage konfrontiert war, wo sich ihm welche Grenzen stellen und an welche Regeln er sich bei seinem Handeln halten soll. Damit stellt sich letztlich die Frage nach dem Sinn auch des Wirtschaftens.
Leaderinnen der Nachhaltigkeit
Gerade die beiden grössten Detailhändlerinnen der Schweiz, Coop und Migros, signalisieren durch ihre Genossenschaftsstruktur, dass ihr Wirtschaften immer von einem Ziel geleitet war, das über das unmittelbare Geldverdienen hinausgegangen ist. Kein Wunder, dass sich beide auch als Leaderinnen im Nachhaltigkeitsbereich präsentieren. Auf ihrer Website sagt die Migros («nachhaltigste Detailhändlerin») von sich: «Unsere Schwerpunkte liegen auf umweltfreundlichen und sozialverträglichen Produkten für einen nachhaltigen Konsum sowie einem breiten Engagement im Bereich Klima. Unser Ziel ist wo immer möglich die Kreislaufschliessung und wir fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt.» Und Coop («Leaderin im Bereich Nachhaltigkeit») steht dem in nichts nach und erklärt: «Mit unterschiedlichen Partnern fördern wir das Gemeinwohl direkt und regen unsere Mitarbeitenden und die gesamte Bevölkerung zu guten Taten an.»
Die Probe aufs Exempel
Greenwashing – Vertrauensmangel – Hoffnung
In einer Studie im Auftrag der Migros ging das Institut Sotomo der Frage nach, wie Schweizerinnen und Schweizer das Nachhaltigkeits-Engagement von Unternehmen in der Schweiz einschätzen (vgl. Sotomo, Unternehmen in der Verantwortung. Haltungen und Erwartungen der Bevölkerung. April 2023). Deutlich wird, dass von Unternehmen, die sich zur Nachhaltigkeit bekennen, nicht nur ökologisches, sondern auch soziales Engagement erwartet wird – dies gerade auch, wenn es finanziell nichts einbringt. Die Bevölkerung, so die Umfrage, geht davon aus, dass sich eine blühende Wirtschaft und sozial engagierte Unternehmen nicht im Wege stehen. Auch wenn viele ein grosses Bedürfnis nach Informationen haben, bringen sie den Unternehmen wenig Vertrauen entgegen und glauben, Nachhaltigkeit sei vor allem eine Form von Werbung – gleichwohl reagieren die Leute positiv auf Nachhaltigkeitsversprechen. Entscheidend ist, dass die Mehrheit der Befragten wohl gerne nachhaltiger und umweltfreundlicher leben würde – und sich dabei Unterstützung durch die Unternehmen erhoffen.
Versprechen – Marge – Intransparenz
Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz im Auftrag des Schweizer Tierschutzes präsentierte im November 2022, wie gross die Gewinnmargen bei den Detailhändlerinnen bei Rind- und Schweinefleisch sind und vergleicht dazu die Preise von konventionellem, Label- und Bio-Fleisch (STS Recherche. Wertschöpfungsanalyse bei Rind- und Schweinefleisch). Das Ergebnis zeigt, dass Bio- und Labelfleisch im Markt mit überhöhten Preisen angeboten wird. Diese hohen Margen fliessen aber nicht an die Produzenten, sondern bleiben bei den Detailhändlerinnen. Obwohl also Konsumentinnen deutlich mehr für Bio- und Labelfleisch bezahlen, gibt es für Produzentinnen praktisch keine finanziellen Anreize, ihren Betrieb auf Bio umzustellen. Der Grund für diese grossen Unterschiede lokalisiert die Studie u.a. in der (grossen) Marktmacht der Abnehmer – also bei den Grossverteilern – wozu Migros und Coop gehören.
Zu ähnlichen Ergebnisse kamen im Juni 2023 auch Untersuchungen des Konsument:innenmagazins Saldo sowie der Kassensturz. Der Preisüberwacher führt in dieser Sendung aus, dass die beiden Grossverteiler eine kollektive Marktmacht haben und dies dazu führt, dass der Preiswettbewerb nicht wirklich spielt und europaweit die höchsten Margen existieren. Bereits früher zeigte die NZZ (19. Mai 2021), dass in der Schweiz im Labe- und Bio-Markt praktisch doppelt so hohe Preise bezahlt werden müssen als in Deutschland und Österreich.
Wegweiser Nachhaltigkeit
Ohne Bezug auf die konkrete Situation bleibt Ethik häufig konturlos. Die Spannungen zwischen Erwartungen, Selbstdeklarationen und Verhalten der Grossverteiler in Bezug auf Nachhaltigkeit weisen auf Fragen hin, die traditionellerweise im Rahmen von Gerechtigkeit und heute zunehmend in Überlegungen zur Fairness bearbeitet werden.
Nachhaltigkeit als strukturethisches Prinzip (Leitplanke) betont die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Perspektiven. Diese drei Kreise müssen miteinander verbunden und gleichzeitig in einem Gleichgewicht gehalten werden, damit das Ziel einer auch für zukünftige Generationen lebbaren Welt gesichert werden kann. In diese Richtung weisen auch die SDGs (z.B. Ziel Nr. 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum) oder Ansätze der CSR.
Während sich der ökologische und wirtschaftliche Kreis für viele Unternehmen heute gut verbinden lassen, indem z.B. Abfall und CO2 reduziert, Energieerzeugung verändert und ressourcenbewusst produziert werden, bleibt der soziale Kreis der Nachhaltigkeit oft etwas unterbelichtet. Unternehmen sind gewiss aktiv, fördern Freiwilligenarbeit, haben Stiftungen oder andere Instrumente zur Stärkung gesellschaftlichen Engagements von Mitarbeitenden wie auch zivilgesellschaftlichen Gruppen – wie es auch die Nachhaltigkeitsprogramme von Migros und Coop gut zeigen. Doch noch zu oft wird der Bogen nicht in den wirtschaftlichen Teil der Nachhaltigkeit gezogen. Dabei geht es um Fragen fairer Löhne und Fairness in den Wertschöpfungsketten.
Die Frage der Macht – und der Verantwortung
Bei aller Vernetzung der drei Bereiche im Rahmen der Nachhaltigkeit wird bezogen auf Fragen der Gerechtigkeit (neuer auch Fairness) und Verantwortung ein wesentlicher Aspekt häufig ausgeklammert: die Macht. Angesichts der Marktrealitäten muss bei der Diskussion um Nachhaltigkeit auch die Marktmacht der verschiedenen Marktteilnehmerinnen angeschaut werden. Denn wer mehr Macht hat, hat nicht nur mehr Möglichkeiten, sondern trägt eben auch deutlich mehr Verantwortung und damit einen grösseren Handlungsspielraum zur Realisierung fairer Verhältnisse sowie zur Erreichung der Ziele des Nachhaltigkeitskonzept.
Hier nun scheinen plötzlich die Welt- und Menschenbilder der Ökonomie und der Nachhaltigkeit in grosser Spannung zueinander zu stehen. Und wer der Studie und Berichten zur Preisgestaltung im Bio- und Labelfleischmarkt (vgl. oben) folgt, kommt nicht umhin festzustellen, dass für die Grossverteiler die ökonomischen Ziele (Gewinn) weit höher gewichtet werden als die sozialen. Dies zeigt sich konkret an der ungleichen Verteilung der Preisentwicklung in der Wertschöpfungskette, der Sorge um die Vielfalt in der Produktion sowie in der Art und Weise des Einbezugs (Partizipation) der Produzentinnen. Damit widersprechen sich die Grossverteiler selber und bestätigen die negative Wahrnehmung grosser Teile der Bevölkerung, wenn es um das Engagement für Nachhaltigkeit bei den Unternehmen geht.
Nach-Denken und Verändern
Es ist nun einfach, mit der Moralkeule auf die Grossverteiler einzuschlagen. Doch solches bringt wenig. Vielmehr lädt der ethische Blick vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit als ethischer Wegweiser/Leitplanke nahe, die Spannungsfelder und Diskrepanzen deutlich zu sehen.
Nachhaltigkeit entpuppt sich so auch als starkes Korrektiv zu einem ökonomischen Denken, das dem Markt und den Marktkräften noch immer die Fähigkeit zuschreibt, für gerechte Verhältnisse zu sorgen. Je grösser jedoch die Marktmacht einzelner – und vor allem weniger – Marktteilnehmerinnen ist, desto stärker sind diese gefordert, die ökonomischen Prinzipien zu hinterfragen und gemäss ihrem Bekenntnis zur Nachhaltigkeit ganz konkret ihre Margenbildung kritisch zu hinterfragen. Gerade ihre Marktstellung und -macht verpflichtet sie, die drei Bereiche der Nachhaltigkeit zusammenzubringen und damit die «natürlichen» Marktentwicklungen nicht nur ökonomisch und ökologisch, sondern insbesondere auch sozial, d.h. u.a. partizipativ zu gestalten. Dies bedeutet nicht zuletzt, den Umgang mit den Produzentinnen von Label- und Biofleisch zu überdenken und zu verändern.
Quellen
Verschiedene Studien und Publikationen haben in jüngster Vergangenheit die Hypothese bestätigt, dass die Agrar- und Foodmärkte nicht entsprechend funktionieren, wie dies vom Regulator erwartet wird.
- SRF Kassensturz, 20. Juni 2023: Margen im Detailhandel – Ein gutgehütetes Geheimnis. Der Preisüberwacher führt darin aus, dass die beiden Grossverteiler eine kollektive Marktmacht haben und dies dazu führt, dass der Preiswettbewerb nicht wirklich spielt und europaweit die höchsten Margen existieren: www.srf.ch/sendungen/kassensturz-espresso/kassensturz/lebensmittelpreise-margen-im-detailhandel-ein-gutgehuetetes-geheimnis
- Artikel Saldo, 9. Juni 2023: «Der Bio-Aufpreis ist fetter als die Wurst» und «Hochpreisinsel Schweiz: Höhere Löhne sind nur eine Ausrede» Bio-Würste sind für Migros und Coop ein gutes Geschäft. Die Herstellung kostet kaum mehr als bei konventionellen Würsten. Doch der Preis einer Bio-Wurst ist viel höher. Die grossen Preisunterschiede zwischen der Schweiz und dem Ausland werden oft mit den höheren Schweizer Löhnen begründet. Studien zeigen aber: Der Einfluss der Löhne auf die Preise ist gering: www.saldo.ch/artikel/artikeldetail/hochpreisinsel-schweiz-hoehere-loehne-sind-nur-eine-ausrede
- 2023: Vorabklärungen des Preisüberwachers betreffend die Preise der Bio-Lebensmittel: Der Marktanteil von Bio bei Migros und Coop liegt gemäss Zahlen von 2021 bei 72.5%. In einem Vergleich zum Ausland findet der Preisüberwacher ein Indiz dafür, dass das wenig wettbewerbsintensive Umfeld in der Schweiz dazu beiträgt, dass Bio-Produkte stärker verteuert werden, weil sie eine extra hohe Marge zu tragen haben.
- 2023, April, Sotomo: Unternehmen in der Verantwortung. Haltungen und Erwartungen der Bevölkerung. https://sotomo.ch/site/wp-content/uploads/2023/04/Migros_Unternehmensverantwortung_DE.pdf
- 2022 STS-Labelstatistik: Der Marktanteil von Migros und Coop liegt bei Label- und Biofleisch In den Hauptkategorien bei 68 bis 90%. Darin wird ein Hauptgrund dafür gesehen, dass sich die Preisschere zwischen konventionellen und Label- bzw. Bioprodukten immer weiter öffnet und infolgedessen der Absatz von Tierwohlprodukten stagniert.
- 2022 Binswanger, Mathias, Wertschöpfungsanalyse bei Rind- und Schweinefleisch: Nachweis, dass Konsumentinnen und Konsumenten einen hohen Aufpreis für Label- und Bioprodukte zahlen, die Tierhalterinnen und -halter jedoch nur einen geringen Aufpreis für die Einhaltung von Tierwohl- und Biorichtlinien erhalten. Dies lässt sich mit Marktmacht begründen: «Viele kleine Anbieter (die einzelnen Tierhalterinnen und -halter) treffen dort auf wenige grosse Nachfrager (vor allem Grossverteiler). Unter solchen Marktbedingungen wird der Produzentenpreis tendenziell nach unten gedrückt, da die Nachfrager den Preis bestimmen können. Die Anbieter haben keine Chance, an andere Abnehmer zu verkaufen. Diese Marktkonstellation sorgt dafür, dass auch die Produzentenpreise für Schlachttiere, welche zu Label- und Bioprodukten verarbeitet werden, nur wenig höher sind als die Preise für die übrigen Schlachttiere».
- NZZ 6. April 2022: Gastbeitrag Paul Richli und Mathias Binswanger: «Gibt es ein Marktversagen im Bereich Bio- und Labelfleisch? Gemäss Kartellrecht könnten Wettbewerbsbehörden dank dem neuen Konzept der relativen Marktmacht die Margen grosser Detailhandelsunternehmungen prüfen.»
- NZZ 19.5.2021: «Herr und Frau Schweizer müssen für Bioprodukte das Zweifache des Preises bezahlen, den die gleichen Produkte in Österreich und Deutschland kosten».
- 2016, Lüthy, Herbert, Die Fairness-Formel: Freiheit und Gerechtigkeit in der Wirtschaft der Zukunft.
- Bundesrat: SDG Nr. 8: www.eda.admin.ch/agenda2030/de/home/agenda-2030/die-17-ziele-fuer-eine-nachhaltige-entwicklung/ziel-8-dauerhaftes-breitenwirksames-und-nachhaltiges.html
- 2010, Vogt, Markus, Prinzip Nachhaltigkeit (2. Aufl), oekom Verlag, München.