Entwicklung & Herausforderungen im Markt für fair gehandelte Produkte – FMS im Gespräch mit dem Soziologen Georg Sunderer

An der Universität Zürich sind in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten zum Konsum fair gehandelter Produkte entstanden. Eine davon ist die Doktorarbeit von Georg Sunderer, in der er für den Kauf fair gehandelter Lebensmittel verschiedene Erklärungsansätze vergleicht. In seiner Arbeit fokussiert er auf „klassische“ fair gehandelte Produkte aus dem globalen Süden. Dementsprechend geht es im folgenden Interview zuerst einmal um solche Produkte. Im zweiten Teil folgen dann Fragen zu Einschätzungen und Schlussfolgerungen bezogen auf fair gehandelte Produkte aus dem Norden, auf die sich Faire Märkte Schweiz konzentriert.  

Warum kaufen Konsumenten*innen fair gehandelte Lebensmittel – welche Antworten lassen sich Ihrer Doktorarbeit hierzu entnehmen? 

Die Arbeit unterstreicht, dass moralische Orientierungen beim Kauf von fair gehandelten Lebensmitteln eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es den Käufer*innen um faire Preise für die Produzent*innen, die Gewährleistung guter Arbeitsstandards und die Verbesserung von Lebensbedingungen. Darüber hinaus gibt es auch nicht-moralische Motive. Hierzu gehört die von manchen Konsument*innen geteilte Überzeugung, dass fair gehandelte Produkte eine bessere Qualität besitzen oder das Motiv, mit dem Kauf solcher Produkte soziale Anerkennung im persönlichen Umfeld zu erhalten. Der Zusammenhang mit solchen nicht-moralischen Motiven hat sich in den Analysen aber als schwächer herausgestellt. 

Aber führen moralische Orientierungen auch zwangsläufig zum Kauf von fair gehandelten Lebensmitteln? 

Nein, obgleich ein deutlicher Zusammenhang besteht, zeigt sich auch beim Kauf fair gehandelter Lebensmittel die typische Einstellungs-Verhaltens-Lücke. Der Grund hierfür sind Barrieren, die Verbraucher*innen davon abhalten, entsprechend ihrer Orientierungen zu handeln. In meiner Doktorarbeit habe ich den Einfluss verschiedener Barrieren untersucht. Wissens- und Verfügbarkeitsaspekte haben sich hierbei als besonders bedeutsam gezeigt. Also wissen die Konsumenten*innen, wo es solche Produkte gibt, handelt es sich dabei um ihre üblicherweise aufgesuchten Einkaufsstätten und können sie solche Produkte erkennen. Ein weiteres Hindernis können Zweifel sein, dass mit fair gehandelten Produkten tatsächlich ein Beitrag zur Verbesserung der Situation der Produzent*innen geleistet wird. Und natürlich spielen auch die Preise eine Rolle. Interessant ist allerdings, dass sich der Einfluss von finanziellen Restriktionen in den Analysen als nicht so stark herausgestellt hat, wie häufig angenommen. Gründe hierfür könnten sein, dass die Aufpreise bei fair gehandelten Lebensmitteln oft nicht besonders hoch sind, sie im Vergleich zu nicht fair gehandelten Markenprodukten teilweise sogar günstiger sind und der Faire Handel – anders als bei Biolebensmitteln – nur eine begrenzte Auswahl an Lebensmittelkategorien betrifft. 

Wie ist die Situation in der Schweiz, wie gross ist dieser Markt?

Die Schweiz nimmt weltweit eine Spitzenposition beim Pro-Kopf-Konsum von fair gehandelten Produkten ein und auch die Bekanntheit des Fairtrade-Labels ist in der Schweiz sehr hoch (Quelle: Max Havelaar-Stiftung (Schweiz) 2023). Wie Jörg Rössel (Universität Zürich), Patrick Schenk (Universität Luzern) und ich in einem Artikel zum Vergleich des Konsums fair gehandelter Produkte in Deutschland und der Schweiz argumentieren, könnte ein Grund hierfür sein, dass es in der Schweiz bereits relativ früh eine Distribution von fair gehandelten Produkten über Supermärkte gab. Dies hat den Zugang für die Konsument*innen erleichtert und dürfte die Vertrautheit mit solchen Produkten gefördert haben. Mit Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten in der letzten Zeit ist zudem bemerkenswert, dass die schweizweiten Umsätze für fair gehandelte Produkte im Jahr 2022 insgesamt nur leicht zurückgegangen sind (Quelle: Swiss Fair Trade 2024). Mit dem vergleichsweise hohen Umsatzniveau gehen im Detailhandel mittlerweile beachtliche Marktanteile in verschiedenen Produktkategorien einher. Trotzdem besteht auch in der Schweiz noch deutlich Luft nach oben –  so liegen beispielsweise die Anteile bei Kaffee und Schokolade laut Jahresbericht 2023 von Fairtrade Max Havelaar jeweils bei 17%. 

Und was sagen Sie zur selbstkritischen Aussage des Präsidenten von Gebana, dass der Faire Handel mit einem Volumen von heute nur knapp 1% am Gesamtmarkt all die Erwartungen von früher nicht erfüllt?

Ich finde schon, dass die Entwicklung des Fairen Handels in der Schweiz beachtlich ist. Er ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark gewachsen und hat sich damit deutlich im Markt etabliert. Und wie gerade schon gesagt, zeichnet sich mit Blick auf die Marktanteile einzelner Produktkategorien ein positiveres Bild ab. Hervorzuheben ist hier insbesondere, dass etwas mehr als jede zweite im Schweizer Detailhandel verkaufte Banane das Fairtrade-Siegel trägt. 

Faire Märkte Schweiz (FMS) konzentriert sich im Wesentlichen auf den Schweizer Markt und somit auf „Fair gehandelte Produkte aus dem Norden“. FMS schlägt also vor, dass in diese Thematik auch die Produkte aus dem Norden aufgenommen werden wie zum Beispiel die „Faire Milch“ oder „Bio-Produkte“, die mit einer zusätzlichen Abgeltung der nachhaltigen Mehrleistungen auch einen Beitrag zur fairen Abgeltung leisten. Was halten Sie davon?

Der Aspekt Fairness ist natürlich nicht auf den Handel mit dem globalen Süden beschränkt, sondern sollte stets eine Rolle bei Handelsbeziehungen spielen. Daher spricht meiner Ansicht nach nichts dagegen auch Produkte aus der Schweiz, oder allgemeiner, Produkte aus dem globalen Norden zu den fair gehandelten Produkten dazuzurechnen, sofern sie Eigenschaften aufweisen, die auf die Unterstützung benachteiligter Produzent*innen und die Sicherung eines fairen Handels abzielen. Wichtig erscheint mir jedoch, dass es bei solchen Produkten einheitliche Mindeststandards bezogen auf ihre Fairnessleistungen gibt, auf die sich die Konsumenten*innen verlassen können. Ansonsten könnte das auf Seiten der Verbraucher*innen zu Verunsicherung führen.

Und soll nicht auch ein Produkt als „FAIR“ gehandelt werden können, das konventionell sein kann, aber die Abgeltung für die Bauern kostendeckend ist und die Verteilung der Wertschöpfung entlang der Wertschöpfungskette als FAIR bezeichnet werden kann? 

Auch für diese Frage ist eine Definition der Mindeststandards wichtig. Dabei wäre es im Sinne einer ganzheitlichen nachhaltigen Entwicklung gut, wenn Fairness auch mit ökologischen Standards kombiniert wird. Zugleich sollten konventionelle Landwirt*innen aber auch nicht ausgeschlossen werden. Daher wäre zu diskutieren, ob ein Mittelweg eine gute Lösung darstellt, wie er bereits beim Fairtrade-Label angewandt auf Produzent*innen im globalen Süden praktiziert wird. Das heißt es werden gewisse ökologische Standards und Anreize in Richtung einer Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit mitaufgenommen, aber eine Bio-Zertifizierung ist keine Voraussetzung für die Teilnahme. Die Mehraufwände durch zusätzliche ökologische Standards sollten dabei stets durch die Fairnessleistungen mitgedeckt werden. Ein solches Modell hätte den Vorteil, dass es nicht nur für eine faire Vergütung sorgt, sondern über diesen Weg auch die ökologische Nachhaltigkeit gefördert wird.  

Welche Herausforderungen sehen Sie für eine stärkere Etablierung von fair gehandelten Produkten aus dem Norden und wie könnte sie erreicht werden? Und was empfehlen Sie speziell Faire Märkte Schweiz?

In Anknüpfung an die genannten Barrieren sehe ich eine Herausforderung darin, dass das alltägliche Einkaufsverhalten durch Routinen und Alltagszwänge geprägt ist. Diese erschweren es, dass faire Alternativen in den Blick geraten, überhaupt als mögliche Option im Moment der Kaufentscheidung berücksichtigt werden und moralische Orientierungen damit wirken können. Dies dürfte auch mit ein Grund sein, warum es entsprechend den Ergebnissen meiner Doktorarbeit und denen einer weiteren Forschungsarbeit an der Universität Zürich (Quelle: Schenk 2017) die wahrgenommene Verfügbarkeit ist, die einen deutlichen Einfluss zeigt und weniger die tatsächlich vorliegenden Kaufgelegenheiten. 

Es ist daher wichtig, diese Routinen aufzubrechen und faire Alternativen aktiv ins Bewusstsein zu bringen, z. B. durch Aktionen, Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit. Faire Märkte Schweiz ist in dieser Hinsicht bereits aktiv und sollte diesen Weg fortsetzen. Nichtsdestotrotz ist eine flächendeckende Distribution als Grundvoraussetzung jedoch von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus dürfte mit Blick auf das Angebot aber auch essentiell sein, dass Anbieter von beliebten Marken in noch größerem Umfang für den Fairen Handel gewonnen werden.

Wie können dabei verschiedene Akteure zur Wahrnehmung fair gehandelter Produkte beitragen?

Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist die Stärkung der Motivbasis für den Kauf solcher Produkte durch Informationen und Bewusstseinsbildung. Neben sozialen Bewegungen kommen hier Verbraucherorganisationen und Verbraucherpolitik eine besondere Rolle zu (Quelle: Nessel 2017). Aber auch Faire Märkte Schweiz sollte in dieser Richtung aktiv sein. Eine Herausforderung für die Kommunikation sehe ich dabei darin, dass der Begriff Fairness relativ abstrakt ist. Es besteht daher ein Bedarf nach klaren Bildern, was Fairness meint und welche Wirkungen erzielt werden sollen. Hierfür sollte nicht allein auf Fakten zurückgegriffen werden, sondern auch auf Praxisbeispiele und Einblicke in den Alltag der Betroffenen. Speziell bezogen auf fair gehandelte Produkte aus dem Norden sehe ich zudem einen deutlichen Bedarf, dieses Thema stärker in der Forschung zum nachhaltigen Konsum und in Bevölkerungsbefragungen aufzugreifen. Auch diesbezüglich könnte Faire Märkte Schweiz Impulse setzen. Dabei geht es zum einen darum, die Sichtweisen der relevanten Akteursgruppen einzuholen. Zum anderen sollte aber auch an partizipative Methoden gedacht werden, bei denen in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Akteursgruppen Lösungsansätze entwickelt werden. 

Dr. Georg Sunderer hat seine Dissertation „Der Kauf fair gehandelter Lebensmittel – ein empirischer Vergleich handlungstheoretischer Erklärungsansätze“ im Jahr 2023 an der Universität Zürich abgeschlossen. Er ist heute mit Zahlengrün – Sozial- und Nachhaltigkeitsforschung (Heidelberg) als freiberuflicher Sozialwissenschaftler tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Ethischer Konsum, Umwelteinstellungen und Umweltverhalten, nachhaltige Mobilität und die Akzeptanz von sozial-ökologischen Innovationen.
Im Interview aufgegriffene Arbeiten zum Konsum fair gehandelter Produkte an der Universität Zürich: 

Schenk, P. (2017): Die soziale Einbettung moralischer Kaufentscheidungen: Eine integrative Erklärung des Konsums fair gehandelter Produkte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Schenk, P., Sunderer, G., & Rössel, J. (2017): Sind Deutschschweizer altruistischer als Deutsche? Ein Vergleich des Konsums fair gehandelter Produkte in Deutschland und der Schweiz. Berliner Journal für Soziologie, 26 (2), 145–170

Sunderer, G. (2023): Der Kauf fair gehandelter Lebensmittel – ein empirischer Vergleich handlungstheoretischer Erklärungsansätze. Dissertation, Universität Zürich. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/229531/1/Sunderer_Georg_Christoph_Dissertation.pdf 

Weitere Quellen: 

Max Havelaar-Stiftung (Schweiz) (2023): Konsument:innen unterstützen Fairtrade weiterhin stark trotz globaler Lebenshaltungskostenkrise. https://www.fairtrademaxhavelaar.ch/newsroom/news/details/konsumentinnen-unterstuetzen-fairtrade-weiterhin-stark-trotz-globaler-lebenshaltungskostenkrise-10955. Zugegriffen: Mai 2024

Max Havelaar-Stiftung (Schweiz) (2024): Jahresbericht 2023. https://www.fairtrademaxhavelaar.ch/fileadmin/user_upload/publikationen/Jahresbericht_2023_FTMH_Layout_DE.pdf. Zugegriffen: Mai 2024.

Nessel, S. (2017): Verbraucherorganisationen, Verbraucherpolitik und Nachhaltigkeit. Zum Beitrag von Organisationen auf sozial-ökologische Konsum- und Produktionsmuster. Berliner Journal für Soziologie, 26 (2), 227-248.

Swiss Fair Trade (2024): Umsätze in der Schweiz. https://www.swissfairtrade.ch/fair-trade/umsaetze-in-der-schweiz/. Zugegriffen: Mai 2024.

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